Lehrarbeit

Die Strafgewalt des Schiedsrichters – Lektion 3

Differenzierung beim Strafmaß

Vorüberlegungen

Die Unterrichtslehre in der Schiedsrichteraus- und Weiterbildung ist zumindest in der Bundesrepublik Deutschland bisher wenig durchdacht. Diese Behauptung lässt sich am leichtesten belegen, wenn man die in vielen Publikationen vorhandene Rubrik »Regelfragen und Antworten« betrachtet. Eine typische Frage lautet: Ein Spieler schlägt seinen Gegenspieler. Entscheidungen des Schiedsrichters ?

Als Antwort wird neben der Spielfortsetzung, dem direkten Freistoß, als persönliche Strafe der Feldverweis erwartet. Fehlt dieser Zusatz, gibt es einen Punktabzug. Den eigentlichen Fehler begeht der Zensor !

Diese Aussage überrascht sicherlich zunächst. Der Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung soll im Folgenden angetreten werden. Damit sollen zugleich neue, relevante Einsichten für die Gestaltung der Lehrarbeit gewonnen werden.

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich vorab mit einem Manko der Spielleitungen zu beschäftigen.

Persönliche Strafen – ein Lotteriespiel ?

Wenn Schiedsrichter in die Kritik geraten, dann meistens im Zusammenhang mit der Verhängung (oder dem Auslassen) persönlicher Strafen.

Strafgewalt des Schiedsrichters – Karikatur von Zitronelli
Abb. 1 – aus ZITRONELLI »Ich bin der Herr – ein Gott«

In Niedersachsen wurden 1989 unfangreiche Untersuchungen darüber angestellt, ob die Klagen der Spieler und Trainer, die Spielleiter seien bei der Ahndung von groben Foulspielen und Unsportlichkeiten nicht berechenbar, berechtigt sind.

In diese Untersuchung, die wissenschaftlichen Kriterien standhielt, wurden ca. 600 Personen einbezogen, und zwar Schiedsrichter aller Leistungsklassen (von der Bundesliga bis zur Kreisklasse), verschiedener Altersstufen (so auch Jungschiedsrichter), männliche und weibliche Spielleiter sowie auch Funktionäre (Spielausschussmitglieder und Sportrichter) . Diesem Personenkreis wurden 23 Filmszenen auf einer Großbildleinwand zur Beurteilung vorgeführt. Damit persönliche Animositäten das Ergebnis nicht beeinflussen konnten, wurde auf ausländisches Filmmaterial zurückgegriffen. Um Wahrnehmungsmängel weitgehend auszuschließen, wurde jede Darstellung 3mal wiederholt.

Das Ergebnis der Untersuchung war besorgniserregend, wie nachstehend beispielhaft Einzelergebnisse dokumentieren:

Ein kräftiges, aber noch korrektes Rempeln, bei dem der Gegner zu Fall kommt, wurde von

  • 50% der Kreisklassenschiedsrichter mit einer (nicht gerechtfertigten) Verwarnung bestraft.
  • Nur 21% beurteilten den Vorgang richtig.

Ein Zufallbringen des Gegners durch einen Tritt von hinten wollten

  • 42% der Bezirksschiedsrichter mit einer gelben Karte,
  • 58% mit einem damals noch möglichen Feldverweis auf Zeit ahnden.

In einer Szene, in der es die »Schauspielerei« eines Akteurs zu beurteilen galt, wollten es bei den Verbandsschiedsrichtern

  • 12% bei einer Ermahnung belassen,
  • 50% die gelbe Karte zeigen und
  • 38% den Spieler auf Zeit des Feldes verweisen.

Auch die Spitzenschiedsrichter (Oberliga bis Bundesliga) zeigten keine besseren Ergebnisse. Bei der Beurteilung einer Spielverzögerung wollten (bei den damals noch recht vagen Vorschriften!)

  • 25% nichts unternehmen,
  • 54% es mit einer Ermahnung bewenden lassen und nur
  • 21% eine persönliche Strafe aussprechen.

Insgesamt urteilten die Schiedsrichter in den höheren Klassen »humaner« und ihre Abweichungen von der Norm waren weniger gering. Als Hartliner erwiesen sich die Bezirksschiedsrichter und die Funktionäre. »Fingerspitzengefühl« bewiesen die Jungschiedsrichter und die Schiedsrichterinnen.

Dass sich bis heute im Grunde nicht viel gebessert hat, beweisen die Fernsehaufzeichnungen nationaler und internationaler Spiele. Auf (fast) gleiche grobe Regelübertretungen reagieren die Spielleiter oft recht unterschiedlich, wenn persönliche Strafen erforderlich sind.


Geplanter Ablauf der Lehrveranstaltung

  1. Anbahnen der Erkenntnis, dass es »Kann- und Mussstrafen« gibt
  2. Regelkundlicher Längsschnitt zu den Mussstrafen (hier: Verwarnungen)
  3. Aufzeigen der Abhängigkeit der Kannstrafen von verschiedenen Faktoren
  4. Übung zur richtigen Dosierung der persönlichen Strafen (Lernzielkontrolle mit Videofilm)

Zu 1:

Zu Beginn der Lehrveranstaltung sollen den Teilnehmern die nachstehenden Fragen beantwortet werden. Es ist dabei möglichst ein Arbeitsmittel zu wählen, dass eine Selbstkontrolle zulässt (Kontrollfixsystem, Fragekärtchen mit den Lösungen auf der Rückseite, Profax- oder Lükgeräte). Damit erübrigt sich zunächst eine Diskussion über die Richtigkeit der Lösungen (auch wenn Proteste laut werden...).

Die Fragen:

1. Als ein Abwehrspieler den Ball nach einem Eckstoß aus der Gefahrenzone köpft, indem er sich auf einen Mitspieler aufstützt, gibt es von den heimischen Zuschauern stürmischen Beifall. Wie verhält sich der Schiedsrichter?

  1. Er nickt allenfalls anerkennend
  2. Er ist ein »Spielverderber« und verhängt einen indirekten Freistoß
  3. Er ist »missgünstig« und zeigt dem Spieler auch noch Gelb

2. Ein Spieler stößt seinen Gegenspieler um! Welche persönliche Strafe muss sein?

  1. Keine
  2. Verwarnung
  3. Feldverweis

3. Kurz vor Spielende muss der Schiedsrichter beim Stande von 1:1 gegen die Heimmannschaft ca. 18 m vom Tor entfernt einen direkten Freistoß verhängen. Damit seine Mannschaft so kurz vor dem Abpfiff nicht noch ein Tor einfängt, stellt sich der Abwehrspieler, der den Freistoß verschuldete und sich dafür eine gelbe Karte einhandelte, vor den Ball und dirigiert die Abwehrmauer sehr sorgfältig.

  1. Das kann von ihm nach seinem Fehlverhalten auch erwarten
  2. Der Schiedsrichter sollte zur Eile antreiben und den »Dirigenten" vertreiben.
  3. Der »Musiker« muss das Orchester verlassen. (Feldverweis)

4. Ein Spieler verschafft sich durch ein Handspiel einen klaren Vorteil. Welche persönliche Strafe ist angebracht ?

  1. Ermessensentscheidung des Spielleiters
  2. Verwarnung
  3. Feldverweis

Bei der anschließenden Diskussion der Lösungen muss deutlich werden, dass bei den Fragen 1 und 3 persönliche Strafen zwingend vorgeschrieben sind. Bei den Fragen 2 und 4 liegt die Bestrafung im Ermessen des Schiedsrichters (2 = a, 4 = a), wobei bei der Frage 2 die Heftigkeit des Stoßes von Bedeutung ist und bei der Frage 4 zunächst einmal die Absicht unterstellt werden muss. Nicht jedes Handspiel bedingt eine persönliche Strafe , auch dann nicht, wenn sich aus der Regelübertretung Spielvorteile ergeben.

Die grundlegende Erkenntnis muss sein, dass zwischen Muss- und Kannstrafen unterschieden werden muss!

Zu 2:

Arbeitsteilig werden die Fußballregeln auf zwingend vorgeschriebene Verwarnungen durchgesehen (regelkundlicher Längsschnitt).

Mussstrafen am Beispiel »Verwarnungen«

Regel Anweisung
1 Es ist dem Torwart (und seinen Mitspielern) nicht gestattet, mit dem Fuß Markierungen auf dem Spielfeld anzubringen. Die schuldigen Spieler sind zu verwarnen
3 Wenn ein Auswechselspieler das Spielfeld ohne Genehmigung des Schiedsrichters betritt, ist er durch Zeigen der gelben Karte zu verwarnen.
Wenn ein Feldspieler seinen Platz mit dem Torwart tauscht, ohne dass der Schiedsrichter dies genehmigt,werden die betreffenden Spieler verwarnt.

(Pauschal) : Für jede andere Übertretung der Regel 3 (gemeint sind u.a. Wechselfehler) werden die betreffenden Spieler verwarnt.

(Aus Regel 12) : Das Verlassen des Spielfeldes ohne Zustimmung des Spielleiters ist verwarnungswürdig.
12 Wenn ein Spieler wegen Mängel an seiner Ausrüstung das Spielfeld verlassen musste und es dann ohne Zustimmung des Schiedsrichters wieder betritt, ist er zu verwarnen. Das Spielen ohne Schuhe ist nicht erlaubt und ist mit einer Verwarnung zu ahnden.

Ein Spieler ist zu verwarnen,

  • der sich unsportlich verhält,
  • der durch Handlungen und Worte seine Ablehnung der Schiedsrichterentscheidungen zu erkennen gibt,
  • der die Wiederaufnahme des Spiels verzögert,
  • wenn er die Rückpassregel durch einen Trick umgehen will,
  • der bei der Ausführung des Freistoßes die Rückpassregel umgehen will,
  • der gegen eine Schiedsrichterentscheidung protestiert,
  • der einen Gegner hält, um diesen daran zu hindern, in Ballbesitz zu gelangen,
  • der mit Hilfe der Hände ein Tor erzielt,
  • der ein unsportliches Handspiel (z. B. zur Verhinderung eines aussichtsreichen Angriffs) begeht,
  • der seine Arme ausstreckt, um einen Gegner zu stören,
  • der von einer Seite auf die andere tritt oder seine Arme auf und ab bewegt, um den Gegner zu behindern und zu zwingen, die Richtung zu ändern (ihn dabei aber körperlich nicht berührt).
Wenn ein Spieler in der Absicht, den Gegner zu verwirren, vor ihm herumtanzt und gestikuliert, ist er zu verwarnen.
13 Spieler, die sich beim Freistoß nach Aufforderung nicht auf die vorgeschriebene Entfernung zurückziehen, müssen verwarnt werden. Bei vorzeitigem Vorlaufen aus der Mauer sind die schuldigen Spieler zu verwarnen, wenn der Freistoß wiederholt werden muss.
14 Stört ein Spieler die Vorbereitungen zu einem Strafstoss, so ist er zu verwarnen. Weigert sich der Torwart beim Strafstoß, seinen Platz einzunehmen, so muss er verwarnt werden.
15 Wenn ein gegnerischer Spieler bei der Ausführung eines Einwurfes den einwerfenden Spieler behindert oder stört, ist er zu verwarnen.
17 (Aus Regel 12): Wenn ein Spieler beim Eckstoß den vorgeschriebenen Abstand trotz Aufforderung nicht einhält, muss er verwarnt werden.
Tabelle 1 – Mussstrafen am Beispiel »Verwarnungen«

Zu 3:

Die Kannstrafen werden von vielen Faktoren beeinflusst. Auf ein Transparent (Überschrift: Abhängigkeit der persönlichen Strafen) werden Folienplättchen (s. u.) gelegt, die diese Abhängigkeit aufzeigen.

Der Referent erläutert die einzelnen Fakten und gibt den Zuhörern gleichzeitig ausreichend Gelegenheit, die Aussagen durch eigene Beispiele zu untermauern.

Spielcharakter
Der Schiedsrichter wird in einem Lokalderby oder Abstiegskampf anders reagieren als bei einem Freundschaftsspiel.

Schwere des Fouls
Ein heftiger Tritt (ROT) ist anders zu ahnden als ein leichtes Hinterherkicken (GELB)

Häufigkeit des Regelverstoßes
Spielt ein Spieler den Ball nach einer Ermahung ein weiteres Mal mit der Hand, ist zumindest eine gelbe Karte fällig.

Oder: Bemerkt der Spielleiter, dass es die Spieler einer Mannschaft offensichtlich auf den Leistungsträger einer Mannschaft abgesehen hat, wird er bei wiederholtem Foulspiel gegen diesen Spieler härter vorgehen, auch wenn verschiedene Spieler »sich Respekt verschaffen«.

Äußere Gegebenheiten
Es ist ein Unterschied, ob ein Spieler bei strahlendem Sonnenschein auf einem gepflegten Rasenplatz zu Fall gebracht wird oder bei klirrendem Frost auf steinhart gefrorenem Boden.

Entfernung des Balles
Es ist anders zu entscheiden, wenn ein ballführender Gegner gefoult wird als wenn der Ball im Moment der Regelübertretung weit vom Tatort entfernt ist.

Toleranz des Spielleiters
In einem Bundesligaspiel muss der Spielleiter einen großzügigeren Maßstab anlegen als bei einem Spiel der Junioren.

Mitverschulden des Gegners
Hat ein Spieler durch einen überharten Einsatz seinem Gegner sehr weh getan und der Gefoulte verliert für einen Moment die Beherrschung und stößt den schuldigen Spieler um, so kann ggf. eine Verwarnung statt eines Feldverweises die angemessene Strafe sein.

Prophylaktisch
Wenn ein Spiel auszuarten droht, sollte der Schiedsrichter sofort energisch einschreiten und bei der Verhängung persönlicher Strafen einen strengeren Maßstab anlegen.

Defensiv
Wie ein guter Skatspieler sollte der Spielleiter seine »Trümpfe« in der Hand behalten und persönliche Strafen erst dann aussprechen, wenn es notwendig ist. Auf keinen Fall sollte er versuchen, sich mittels gelber Karten zu Beginn eines Spieles Respekt zu verschaffen.

Zu 4:

1. Vorführung des Videofilms »Persönliche Strafen«. Während der Vorführung sind in ein Arbeitsblatt die persönlichen Strafen einzutragen sowie die Entscheidung, ob es sich um eine Kann- oder Mussstrafe handelt.

2. Abschnittsweise Vorführung des Films : Die Teilnehmer begründen ihre Entscheidungen (Diskussion).

Erkenntnisse:

  • Unter Würdigung aller Faktoren, die »Kannstrafen" beeinflussen, ist es nicht immer möglich, sich auf eine bestimmte persönliche Strafe festzulegen. Vielmehr wird der Spielleiter sich bei der Verhängung persönlicher Strafen in einem Rahmen bewegen müssen, der Toleranzen zulässt.
  • Es ist nicht sinnvoll, bei Regeltests nach persönlichen Strafen zu fragen, sofern sie nicht zwingend vorgeschrieben sind. Bei Neulingen z. B. sind sonst unangemessene Reaktionen bei der Bewertung von Regelübertretungen zu befürchten, wenn sie mit solchen »Schwarzweiß-Regelfragen" geschult werden.

3. Erneute Vorführung des Films (Lernzielkontrolle) unter Verwendung der Arbeitsblätter. Diese Lernzielkontrolle sollte möglichst zu einem späteren Zeitpunkt (nächster Lehrabend) erfolgen, um die positiven Auswirkungen des Wiederholungseffekts zu nutzen.

Folienplättchen

Abhängigkeit der persönlichen Strafen

Spielcharakter

Schwere des Fouls

Häufigkeit des Regelverstoßes

Entfernung des Balles

Prophylaktisch
Äußere Gegebenheiten
Defensiv
Mitverschulden des Gegners
Toleranz des Spielleiters